Live erlebt: GOETHES ERBEN

Berlin, Wabe, 17. November 2024
Goethes Erben als stilprägenden Pionier, aber gleichzeitig auch als Ikone der deutschen Dark-Wave- und Gothic-Szene zu bezeichnen ist unstrittig. Unter der Leitung von Oswald Henke entwickelte sich ein einzigartiger Stil, der Musik, Theater, und noch mehr die Poesie der Worte miteinander zu etwas Neuem verbindet. – Ein avantgardistisches Musiktheater. Seit 1989 überschreitet dabei Oswaldals charismatischer Frontmann und kreativer Kopf die Grenzen traditioneller Musikgenres. Seine Alben und Lieder erzählen immer Geschichten von Vergänglichkeit und menschlichen Abgründen. Emotional tiefgründig und oft gesellschaftskritisch. Die Konzerte gleichen einer intensiven Theaterinszenierung und ziehen, geprägt durch Henkes ausdrucksstarke Bühnenpräsenz und die Wucht seiner Worte, das Publikum in ein Wechselspiel aus Melancholie, Dramatik und Intensität. Im November 2024 spielte Goethes Erben wieder eine kleine Tour, eine „dystopische Zeitreise – Teil 2“ durch vier deutsche Städte – und wir waren in Berlin dabei.
Ein Vorspiel
Konzerte von Goethes Erben gleichen ein wenig einem Überraschungsei: Man darf mit Spannung und in Erwartung Spaß zu haben, sich auf Überraschendes freuen! So erging es auch vielen Fans schon vor dem Betreten der Berliner Wabe als während des Wartens in der Schlange vor der Tür plötzlich Oswald Henke auftauchte und jeden einzelnen persönlich fragte, woher sie oder er denn angereist sei. Diese Geste verlieh dem Konzertabend schon vorab eine persönliche, ja beinahe intime Note, die die besondere Beziehung zwischen Goethes Erben und ihren Fans unterstrich. Das war schon einmal ein überraschender Anfang in der „Stadt der Träume“.
Der erste Akt
In der sehr gut gefüllten Berliner Wabe, ein 1986 auf dem Gelände der IV. Städtischen Gasanstalt im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg/Pankow erbautes Kulturzentrum, eröffnete die belgische Band The Arch und von Oswald Henke persönlich angesagt den Abend mit einem kraftvollen und atmosphärischen Set. Mit ihrem charakteristischen Mix aus Dark Wave, Post Punk und sphärischen Keyboardsequenzen sowie einen an Brian Eno erinnernden Sänger Gerd Van Geel, schafften sie es schnell, die Berliner Zuhörer zu faszinieren. Natürlich durften ihre Clubhits wie „Ribdancer“, „Eyes Wide Open“ und mit Unterstützung des Goethes-Erben-Cellisten Benni Cellini bei der Piano-Version von „Babsi ist tot“ nicht fehlen.
Wenn nur Worte meine Sprache wären
Nach einer kurzen Pause begann die von den Fans sehnsüchtig erwartete, dystopische Zeitreise. Obwohl sie das Potenzial eines Jubiläumsprogramms zum 35-jährigen Bestehen gehabt hätte, war es ganz bewusst keine. Oswald Henke entschied sich, kein klassisches „Best-of“ zu präsentieren, sondern seine ganz besondere „wichtig war und ist“-Auswahl. Diese Entscheidung unterstrich seine künstlerische Integrität, stets jenseits von Konventionen zu agieren. Mit dem kraftvollen Opener „Rot“ vom Album „Am Abgrund“ zogen Goethes Erben das Berliner Publikum sofort in ihren Bann. Die Kombination aus theatralischer Tiefe und intensiver Präsenz fesselte von der ersten Minute an. Nahtlos führten Goethes Erben die Zuschauer auf eine emotionale Reise mit Stücken des aktuellen Albums „X“, darunter „Nagen“, „Traum vom Leben“, „Schmerz“ und das sehr eindringliche „Ich bin allein“. Mit einer unvergleichlichen Mischung aus musikalischer Wucht und Henkes eindringlicher Performance schleuderte er seine ekstatische Wut und gesellschaftskritischen Botschaften förmlich ins Publikum und hinterließ Gänsehaut und Staunen gleichermaßen. Da war er also, Oswald Henke, der „Liebling der Götter“.
Himmelgraue Planetenmelodien
Im Laufe des Abends präsentierten Goethes Erben ein vielseitiges Set, die Klassiker „Nacht der 1.000 Worte“, „Nichts bleibt wie es war“ und „Die Brut“ ebenso umfasste, wie neuere Stücke der letzten Jahre wie das mit beklemmender Intensität vorgetragene „Lazarus“ oder das treibende „Darwins Jünger“. Ein Highlight war der träumerische Song „Stadt der Träume“ der mit einer melancholischen Kraft sowohl musikalisch als auch textlich tief unter die Haut ging. Natürlich durfte das frenetisch gefeierte „Glasgarten“, der wohl größte Hit von Goethes Erben, nicht fehlen. In einer besonderen Interpretation übernahm Gerd Van Geel, Frontmann von The Arch, den ursprünglich von Peter Heppner gesungenen Part. Gemeinsam lieferten Henke und Van Geel eine beeindruckende Darbietung, die mit ihrer melancholischen Intensität und tiefgreifenden Emotionalität das Berliner Publikum bewegte.
Der Abschluss: Melancholie und Applaus
Nach über zwei Stunden endete mit einer dritten Zugabe und dem philosophischen „Lebend lohnt es“, der durch die minimalistisch gehaltene musikalische Untermalung noch viel eindringlicher wirkte, ein grandioser theatralischer Konzertabend. Diese besondere einzigartige Mischung aus Musik und Theater, mit gesellschaftskritischen Botschaften und einem Oswald Henke, der auch immer wieder die Rolle eines Erzählers einnahm und mit provokanten Texten das Publikum zum Nachdenken anregte, war mehr als ein Konzert. – Es war ein intensives, künstlerisches Erlebnis und das Publikum dankte mit lang anhaltenden Applaus. Ohne Effekthascherei, nur durch seine Stimme und Mimik, brachte er die Themen der Erben – Vergänglichkeit, gesellschaftliche Abgründe und persönliche Emotionen – auf die Bühne und bewies, warum Goethes Erben seit Jahrzehnten eine unverzichtbare Größe der Szene sind.
Text & Photos: Thomas Friedel Fuhrmann
Setlist:
„Intro“ • „Rot“ • „Nagen“ • „Traum vom Leben“ • „Schmerz“ • „Ich bin allein“ • „Keine Farben“ • „Nacht der 1000 Worte“ • „Vergessen“ • „Lazarus“ • „Nichts bleibt wie es war“ • „Die Brut“ • „Darwins Jünger“ • „Das Ende ist da“ • „Stadt der Träume“ • „Seelenschatten“ • „Am Abgrund“ ••• „Verstümmelung“ • „Xenomelie“ ••• „Glasgarten“ • „Märchenprinzen“ ••• „Wann“ • „Lebend lohnt es“
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