So war es beim NCN Festival (Teil 2/3)

Im ersten Teil tauchten wir tief ein in das NCN Festival, das dieses Jahr sein 20-jähriges Jubiläum zelebrierte. Wir ließen wir den Freitag Revue passieren: Ein Auftakt voller Energie und kantiger Elektronik, mit Pseudokrupp Project, Placebo Effect und Prayers als Herzschläge des Abends. Nun wenden wir uns dem zweiten Spieltag zu.
Tag 2 – Samstag, 06. September 2025
Der Tag, an dem alles vibrierte
Die Sonne hängt noch über den Bäumen, als der zweite Tag des NCN erwacht. Ein sanfter Wind zieht durch das Gelände, der Staub tanzt in goldenen Strahlen, und man spürt schon – das wird ein Tag voller Gegensätze. Zwischen Andacht und Aggression, Romantik und Ruin.
Aufbruch mit Herzblut
Wiegand eröffnen den Samstag – und tun das mit einer Aufrichtigkeit, die man nicht oft hört. Diese Musik hat keine Kanten aus Kalkül, sie fühlt sich an wie ehrliche Haut. Sie hat etwas Reines, Ehrliches. Keine Pose, kein Pathos – nur Gefühl, in elektronische Form gegossen. Alles klingt wie ein Versprechen, wie eine Erinnerung, die noch nachhallt, die nicht loslässt. Es ist kein lauter Auftakt – es ist ein Ankommen, fast wie ein kollektives Einatmen nach dem Freitag.
Kunst aus Klang
Schubladen helfen hier nicht weiter. Rotoskop sind kein reines Elektroprojekt, keine klassische Band – eher ein dunkler Fluss, der verschiedene Strömungen kreuzt. „Dark Mood Pop“ nennt er es selbst, und das trifft es erstaunlich gut: melancholisch, tief, mit Momenten, die gleichzeitig treiben und tragen. Die Stimme bleibt das Zentrum – warm, eindringlich, fast beschwörend. Ein Auftritt, der nicht laut überzeugen muss, weil er von innen leuchtet.
Skandinavische Schatten
Dann zieht eine andere Kälte auf. It’s For Us – Post-Punk mit gläserner Seele. Ihr Sound ist reduziert, aber nicht leer. Jeder Akkord klingt wie ein Herzschlag unter Eis. Sängerin Emelie steht im Lichtkegel, fast unbeweglich, ihre Stimme zerbrechlich wie Glas, das gerade bricht, und stark zugleich. Der Wald hält den Atem an.
Theater der Dunkelheit
Circus of Fools stürmen die Bühne – eine Explosion aus Kostümen, Make-up und Wahnsinn. Sie spielen mit Horror, Humor und Gesellschaftskritik, ohne in Klamauk zu kippen, und bringen viel Farbe in die Schwärze. Der Auftritt ist laut, bunt, und doch: tief. Ihre Show ist Exzess mit Haltung, Irrsinn mit Verstand. Sie erschaffen einen seltsamen Zauber: grotesk, politisch, überlebensgroß. Man lacht, man staunt, man versteht.
Romantik in Trümmern
Grave of Love treten auf und lassen plötzlich alles atmen. Ihr Sound als Mischung aus Neofolk und Industrial ist wie ein kalter Wind durch eine gotische Kathedrale – Melancholie, Melodie, und dieses gewisse Etwas zwischen Schönheit und Schmerz. Man tanzt nicht, man schwebt.
Streicher im Nebel
Vier Frauen, vier Bögen, keine Worte. Eklipse verwandeln den Park in ein Traumtheater – in samtenen Tönen, ohne Worte, aber mit Gefühl in jeder Bewegung. Melodien werden zu neuen Geschichten, getragen von Glanz und Ernst. Hier regiert das Zarte. Ein kurzer Moment der Ruhe, ein musikalischer Atemzug, bevor der nächste Sturm kommt.
Regen im Licht
Principe Valiente bringen Weite mit. Sie klingen, als würden sie Hall in Sehnsucht gießen. Gitarre, Echo, Stimme – alles schwebt. Man spürt Schweden. Weite. Einsamkeit. Die Gitarren klingen, als wollten sie sich selbst umarmen. Zwischen Traum und Trance findet das Publikum einen stillen Raum inmitten des Trubels. Ein Auftritt wie ein Blick in eine Erinnerung, die man nie hatte, aber vermisst.
Ordnung und Emotion
Mit Angels & Agony zieht wieder Struktur ein. Ihr EBM ist präzise, diszipliniert, aufgeräumt, aber nie mechanisch oder steril. Jeder Takt hat Haltung, jeder Text Gewicht. Frontmann Reinier Kloss singt mit ruhiger Entschlossenheit, Worte wie Pfeile, aber aus Samt. Man tanzt kontrolliert, und doch ist alles Gefühl.
Tanzende Melancholie
Machinista bringen Licht ins Schwarz. Ihr Synthpop ist melodisch, melancholisch, aber nie flach. Sie haben diese Fähigkeit, Traurigkeit in Bewegung zu verwandeln – bittersüß und ehrlich. Der Platz vor der Bühne tanzt, aber die Augen der Leute sagen: Wir verstehen.
Der Schmerz als Schönheit
Rosegarden Funeral Party – was für ein Auftritt. Leah Lane‘s Stimme schneidet durch den Nebel, roh und heilig zugleich. Ihre Songs sind Wunden, ihre Energie eine Offenbarung. Man spürt: Hier steht jemand, der nichts spielt, sondern lebt. Ein amerikanisches Versprechen in Schwarz – und eines, das die Szene versteht.
Kalte Urbanität
Formalin tragen Berlin im Sound: hart, technisch, kompromisslos. Industrial ohne Zuckerguss – metallisch, direkt, brutal ehrlich. Man spürt, wie die Temperatur steigt, obwohl die Sonne längst sinkt. Ihr Industrial-Sound ist gnadenlos, präzise, körperlich. Kein Raum für Nostalgie – nur Bass, Beton, Schmutz und Neon. Es riecht nach Großstadt, und das Publikum will jetzt genau das.
Ritter der Nacht
Kettenhemden, Samples, Weihrauch – Heimatærde marschieren auf und bringen ihre einzigartige Mischung aus Mittelalter, Sakralem und EBM – und es funktioniert. Es ist theatralisch, aber echt, überzogen, aber überzeugend, überzeichnet, aber ehrlich inszeniert. Man tanzt, man lacht, man verliert sich.
Schatten aus Italien
Wenn Ash Code spielen, verändert sich die Luft. Ihr Dark Wave ist dunkel und klar zugleich, jede Zeile ein Mantra. Düster, tanzbar, emotional – sie verbinden Wave mit moderner Kälte. Ihr „Posthuman“ schwebt über Köpfen, Nebel zieht, Lichter glimmen – und Songs, die klingen wie Liebesbriefe an eine zerbrochene Welt. Ein melancholischer Tanz, der nicht endet.
Ironie mit Herz
Ein kurzer Moment des Staunens: Right Said Fred auf dem NCN. Zwei Pop-Ikonen inmitten der schwarzen Szene – und es funktioniert überraschend gut. Mit entwaffnendem Humor und ehrlicher Spielfreude holen sie selbst die Skeptiker ab. „I’m Too Sexy“ erklingt, der Wald tanzt, und plötzlich ist alles leicht. Kein Fremdkörper, sondern ein Kontrast, der zeigt: Auch Dunkelheit darf lachen.
Der Poet unter den Rebellen
ROME – ist nie nur ein Konzert, es ist Stille, Schwere, Wahrheit. Es ist Literatur in Klang. Jérôme Reuter steht da, ohne Pathos und aufrecht, seine Stimme warm, resigniert, voller Würde. Er singt über Krieg, Menschlichkeit, Hoffnung in Zeiten des Verfalls. Seine Texte gleichen einem Manifest, seine Stimme einem Bekenntnis. Die Menge steht still. Man hört jedes Wort. Ein Auftritt, der für immer bleibt.
Katharsis in Kerosin
Suicide Commando verwandeln Deutzen in ein Inferno. Johan Van Roy steht da wie ein Prophet des Zorns. Stroboskop, Rauch, Beats, Schmerz. Niemand bleibt stehen, niemand bleibt unberührt. Es ist gewaltig, intensiv, kathartisch – so, wie man es erwartet, aber jedes Mal neu erlebt.
Wenn Musik zu Licht wird
Zuerst: Stille. Ein Synth-Akkord schwebt über die Bühne, während Laser auf Sterne zielen. Kite betreten das Licht – fast unirdisch. Kein Geschrei, kein Bruch. Nur dieser Sound, der fließt wie Wasser, der atmet. Nicklas Stenemo singt, als würde er nicht auftreten, sondern beichten. Christian Berg lässt die Synths leuchten, bis das ganze Gelände glimmt. Es ist kein Konzert. Es ist eine Offenbarung.
Tanz als Trotz
Zum Abschluss ein unerwartetes, charmantes Augenzwinkern: Men Without Hats. „The Safety Dance“ – ein Klassiker, ein Bruch, ein Befreiungsschlag. Nach all der Schwere kommt Leichtigkeit, ohne Peinlichkeit. Ein kollektives Grinsen, das über die Gesichter huscht, während die Nacht sich senkt.
Nachklang
Der Samstag endet heiß, vibrierend, vollkommen – in einem Gefühl aus Erschöpfung und Ekstase. Man könnte sagen: Das war nur Musik – aber für viele war es mehr. Im nächsten Teil folgt das große Finale zwischen Melancholie und Aufbruch – Hell Boulevard, Heldmaschine, She Past Away, Tanzwut, Camouflage.
Text & Photos: Thomas Friedel Fuhrmann – Lass uns schreiben, bis die Worte atmen.
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