ROCK AM RING 2024 mit GREEN DAY, BABYMETAL, ELECTRIC CALLBOY u.v.m. (Teil 2/3)
Samstag, 08. Juni 2024 – Endorphine breiten sich aus
Schon die erneute Anfahrt zum Nürburgring ließ Glücksgefühle aufkeimen. Das selige Rock-am-Ring-Gefühl stellte sich unausweichlich ein. Der kurvenreiche Weg durch die sagenhaft schöne Landschaft der Vulkaneifel war kurzweilig. Da die Konzerte erst spät in der Nacht endeten, fiel der Startschuss glücklicherweise auch erst zur angenehmen Mittagszeit. Zu Beginn begaben wir uns auf eine kleine Zeitreise. Den Veranstaltern gelingt es jedes Mal Bands zu engagieren, die man kaum zu Gesicht bekommt. Selbst wenn das Line-up mal auf den ersten Blick hin nicht ganz so den eigenen Vorstellungen entspricht, kann man sich sicher sein – man wird auf diesem Festival die eine oder andere Neuentdeckung für sich verbuchen. Verborgene Schätze lauern hier nämlich auf sämtlichen Bühnen.
Bemerkenswerter Jungbrunnen
In den Neunzigerjahren machte die Crossover-Band 311 auf sich aufmerksam. Live habe ich die Mannen aus Nebraska bislang nie erlebt. Dies sollte sich nun ändern. Als die Band die Mandora-Stage erklomm, traute ich meinen Augen kaum. Wie gut kann ein 54-jähriger Sänger in Form sein? Nick Hexums Haar glänzte mittlerweile silbern im Sonnenlicht, doch sein strahlendes Lachen und seine leuchtenden Augen ließen ihn zusammen mit seinem muskulösen Körper weitaus jünger wirken. Mit ihrem Mix aus Rock, Hip-Hop, Reggae und Ska versprühten 311 herrliche Neunzigerjahre-Jahre Vibes. Nach wie vor reicherte der Zweitsänger S.A. Martinez die Songs engagiert mit seinen Sprechgesangseinlagen an. Doch auch ihre brandneue Single „You’re Gonna Get It“ kam ausgesprochen gut beim Publikum an. „The next one goes out to all the beautiful disasters out there.” Geschmeidig und angenehm wirkte sich die Single aus dem Jahr 1997 auf das Wohlbefinden der Besucher aus. Selbstredend durfte der Hit der Band nicht fehlen. „Down“ weckte nochmal unsere Erinnerungen an diese unbeschwerte Zeit. Während Nick seine Gitarre bespielte, sprang er mehrfach kraftvoll in die Luft und schüttelte anschließend wild seinen Schopf.
Hollywoodstar ganz nah
Dogstar – dieser Bandname war einem vorab gar nicht mal so geläufig. So erging es scheinbar auch den Ringrockern. Denn der Platz vor der zweiten Bühne war nicht so prall gefüllt, wie man es erwarten hätte können. Doch Obacht, bei dem Trio aus Los Angeles steht ein äußert bekanntes Gesicht am Bass: Keanu Reeves!Die Securities zeigten dementsprechend eine erhöhte Präsenz und machten sich aufs Äußerste gefasst. Womöglich fielen weibliche Fans reihenweise in Ohnmacht oder sie nutzten eine Crowdsurfing-Welle, um dem Weltstar für einen Augenblick näher zu sein. Gefühlt 95% der Fotografen knubbelten sich jedenfalls plötzlich im Fotograben. Für sie hieß es ran an den Hollywoodmann. Gemeinsam betrat das Trio ihre Spielstätte. Mit kurz geschnittenem Haar, teils ergrautem Bart, einem simplen schwarzen V-Neck-Shirt und einer dunklen Jeans stand der Superstar plötzlich direkt vor uns. Dieser Moment wirkte erstmal unwirklich. Ganz lässig spielte er seinen blauen Bass und wirkte auf sein Instrument fokussiert. Mit ihrem gemäßigten Alternative Rock ließen die Amerikaner ihren Sound auf sich wirken. Keanu jammte mit dem Fronter Matt Domrose und zwischendurch warf er auch mal einen Blick ins Publikum – aber nur ganz kurz. Wurden die Securites gefordert? Oh ja, aber lediglich, um immer wieder einen blauen Wasserball zurück in das Publikum zu stupsen. Während der Track „Glimmer“ bezaubernd daherkam, griffen die Mannen zwischendurch auch mal härter in die Saiten. Keanu strahlte eine angenehme und authentische Bescheidenheit aus, taute aber im Laufe des Sets immer mehr auf und rückte beim basslastigen Closer „Breach“ tatsächlich mal lachend in den Vordergrund.
Auf meinem Rückweg zur Hauptbühne bot sich ein skurriles Bild. Dort spielten die Donots gerade ihren letzten Song. Und wo steckte ihr Sänger Ingo Knollmann? Er saß vergnügt auf einem kleinen pinkfarbenen Kinderauto und ließ sich über die Menge tragen. Am Ring ist einfach alles möglich.
Das ewige Lied
An der Startaufstellung bildeten sich unterdessen lange Schlangen. Die Fans von Electric Callboy warteten auf grünes Licht, um die Bereiche der vorderen Wellenbrecher zu fluten und die wildeste Party des Tages zu starten. Mit buntem Konfetti zündete die Combo aus Castrop-Rauxel ihren „Tekkno Train“. Ursprünglich entstamme ihre Musik dem Metalcore, zusammen mit ihren extravaganten Shows könnte man ihre Richtung aber eher als Partycore deklarieren. Eines ist klar: Wo auch immer die Truppe auftritt – hier gehen alle steil. Zu Growls, Electro-Klängen und hohen Stimmen gesellten sich Feuerschübe und unzählige Pits. Auch eine stattliche Wall of Death ließ nicht lange auf sich warten. Wie es am Ring üblich ist, bekam auch die „Scheiß Tribüne“ ihr Fett weg. Bei nahezu jeder Band, die auf der Hauptbühne spielt, bilden sich kurzzeitig die lautstarken Chöre, um den Presseleuten, VIPs und gehandicapten Besuchern, die sich das muntere Treiben von der Empore aus ansehen können, mit einem Augenzwinkern den imaginären Mittelfinger zu zeigen. Auch Electric Callboy stiegen mit ein: „Schmeckt der Champagner? Liegen die Haare noch? Prost, ihr Säcke!“ Für ihre Fans fanden sie hingegen warme Worte und ernteten dafür einen Jubelsturm: „Es ist scheißegal, wo ihr herkommt, wen ihr liebt, es ist egal was ihr anhabt, was ihr sonst für Mukke hört. Es ist so geil, euch jedes Mal vor der Bühne zu haben. Ein dickes Dankeschön, an alle, dass ihr uns supportet. Ihr macht es möglich, dass wir bei Rock am Ring unseren Jugendtraum leben können.“ Für Ihren Smash-Hit „Hypa Hypa“ schmissen sich die Partyboys in bunte Klamotten und Vokuhila Perücken.
Kreative Pit-Varianten
Glücklicherweise nutzten die Jungs auch die Gelegenheit, dass Babymetal kurz nach ihnen hier spielten. Halbe Discokugeln zierten dabei die Köpfe von Electric Callboy. Für ihren gemeinsamen Banger „Ratatata“ erhielten sie also hochkarätigen Besuch von den drei beliebten Japanerinnen. Mit ihrer Choreografie und ihrem Gesang heizten sie den Fans zusätzlich zu den emporsteigenden Flammen ein. Und beide Bands hatten sichtlichen Spaß an der kollektiven Performance. Für ihre Metal-Version des Schlagersongs „Hurrikan“ erklärten Electric Callboy das Infield zum „Dancefloor“. Lauter „Paare“ bildeten sich in den Pits und führten spontan ein Discofox-Tänzchen auf. Generell war man erfindungsreich. Neben den bekannten Ruder-Rudeln, die sich bildeten, hielten sich gar einige Partyrocker mit Liegestützen in ihren Circles fit. Für ihr Grande Finale mit dem Chartstürmer „We Got the Moves“ zückten die verrückten Callboys ihre berühmten Pilzkopf-Perücken. Die Menge feierte, als gäbe es kein Morgen. Luftschlangen und Funken tanzten gemeinsam mit den losgelösten Endorphinen umher und hinterließen auch bei den Jungs ein pures Glückgefühl „Ich bin so froh, dass ich so nass geschwitzt bin, so dass ihr meine Tränen nicht sehen könnt.“
Was ist der Haken an großen Festivals? Überschneidungen! Der Auftritt von Pendulum fiel daher für mich schweren Herzens ins Wasser. Glücklicherweise aber nicht für unseren Fotografen. Ihren begnadeten Stilmix aus elektronischer Musik, Rock- und Metal-Elementen reicherte die australisch-britische Band mit einer sehenswerten Lichtshow und einer mitreißenden Performance an. Für viele Besucher gehörte das Quintett zu DER Neuentdeckung bei Rock am Ring.
Ein starkes Band
Weiter ging es mit prächtiger Laune und jeder Menge Energie bei Billy Talent auf der Main-Stage. Vor der Bühne entstand gerade ein wuseliger Umbruch. Die Besucher gaben sich quasi die Klinke in die Hand, da die Metalheads hinüber zur Mandora-Stage wollten und die Rocker sich ihren Weg zu den Kanadiern bahnten. Doch davon ließ sich das Urgestein Benjamin Kowalewicz keineswegs verunsichern. Seine langjährige Bühnenerfahrung kam hier voll zum Tragen und schnell hatte er die Fans auf seiner Seite. Mit 20 Songs boten Billy Talent ihrem Publikum einen gelungenen Querschnitt ihrer Schaffenswerke aus den letzten 20 Jahren. Dabei setzten sie bewusst reduziert auf ihr eigenes Können und verzichteten auf jegliche Special-Effects. „Take care of each other“, ließ der Fronter verlauten. Bei schönstem Sonnenuntergang stand hier das Miteinander im Vordergrund und dafür liebten die Anhänger ihre Band. Klassiker wie „Rusted from the Rain“, „Fallen Leaves“, „Red Flag“ wurden dabei ebenso gefeiert, wie neuere Erscheinungen der Band. Vor und auf der Bühne war hier die Zuneigung füreinander deutlich spürbar.
Absolute Perfektion
Auf der zweiten Bühne warteten die Fans unterdessen gespannt auf Babymetal. Einige Mädels neben mir platzten fast vor Aufregung – dabei hatten sie das Trio schon mehrfach live gesehen und wussten genau, was auf sie zukam. Ihre 100%ige Textsicherheit sollten sie auch noch lautstark unter Beweis stellen. In einem Intro erläuterte uns eine liebenswerte männliche Stimme die fantasievolle Geschichte von Babymetal. Am Ende stellte man uns die entscheidende Frage: „Are you ready to headbang? Now is the time for the metalverse with Babymetal!” Im Gleichschritt erklommen sie die eigens aufgebaute Empore auf der Bühne. Um mich herum wurden tausende Pommesgabeln in die Höhe gehalten. Mit dem Titel „Babymetal Death“ eröffnete das Trio ihr Set. Vom ersten Augenblick an saß ihre Choreografie perfekt. Dabei umgab sie das wilde Gitarrenspiel ihrer Mitmusiker. Deren Gesichter waren von teuflischen silbernen Masken bedeckt, die ihnen einen unheimlichen Look verpassten. Suzuka Nakamoto alias „Su-Metal” machte uns direkt eine Ansage: „Rock am Ring, show me a big circle!“ Und den sollte die Sängerin bekommen. Ein ausladender Circle-Pit entstand und die Fans hatten ihre helle Freude. „Everybody jump up!“ Und selbst während die drei Japanerinnen hochsprangen, bauten sie gleichzeitig Tanzbewegungen ein. Zu „BxMxCx“ wurde heftigst geheadbangt. Und auch Babymetal hatten Special Guests parat. Electric Callboy ließen es sich tatsächlich auch nicht nehmen, den jungen Damen bei ihrem Auftritt einen Besuch abzustatten. „Ratatata“ die Zweite. Schon war die Party wieder voll im Gange. Diesmal wirkte die Performance von Babymetal richtig ausgelassen. Ihre Bandbuddys schlossen sie während des Songs in die Arme. „Gimme Chocolate!!!“ nahm dann ordentlich Tempo auf. Sound und Gesang schienen sich in den Strophen fast zu überschlagen und doch waren auch die Hardcorefans in der Lage mitzuhalten – Respekt! Der Kawaii-Metal des Trios bescherte einem einfach richtig gute Laune. Zusammen mit all den visuellen Effekten und zahlreichen Special-Effects wurde uns hier ein Konzert der Extraklasse geboten. Nicht umsonst sind Babymetal international so weit vorn. „We’re so happy to be back here. Thank you Rock am Ring. We promise to come back. See you.”
Kein bisschen leiser
Erneut brach mit der Nacht eine gehörige Kältewelle über den Ring herein. Glücklicherweise rückte man vor den Bühnen nahe zusammen. Zurück zur Utopia-Stage, hier waren Green Day ready to rock! Als Intro ging „Bohemian Rhapsody” von Queen in den Song „Blitzkrieg Bop“ der Ramones über. Und wer stürmte als erstes die gigantische Bühne? Na, der in die Jahre gekommene Hoppelhase, der jede Show der Band eröffnet: Drunken Bunny. Engagiert rannte er auf den Bühnenrand zu und heizte die Menge an. Auf ihn folgten dann aber schnurstracks die US-Amerikaner und gaben „The American Dream Is Killing Me“ zum Besten. Leider waren die Fotoregeln bei Green Day sehr streng. Abgesehen von einer Handvoll zugelassener Fotografen durfte niemand ein professionelles Foto der Band festhalten – nicht mal von der Tribüne aus. Mit seinem blond gefärbten Haar wirkte Billie Joe Armstrong, als sei die Zeit stehengeblieben. Obgleich Green Day in diesem Jahr ein doppeltes Jubiläum feiern – 30 Jahre „Dookie“ und 20 Jahre „American Idiot“ – ist der Frontmann augenscheinlich nicht gealtert. Ihr Drummer Tré Cool trug auch noch immer blaues Haar. Bemerkenswert. Zurück zur Musik. Spätestens als „Basket Case“ erklang, waren wir alle innerlich wieder jung. Billie rief: „Get your hands up!“ – und die nicht enden wollende Menschenmenge parierte. Vor Tré Cools Drumset gingen Flammen auf und auch zwischen den Punkrockern und ihren Fans sprang der Funke über. „I need someone to come on stage right now.“ Billie pickte einen jungen Mann heraus. Dieser durfte sich zu „Know Your Enemy“ auf der Bühne austoben und seinen Idolen dabei ganz nahe sein. Als mal wieder die „Scheiß Tribüne“ begröhlt wurde, konterte Billie kess: „I guess that means: I love you!“ Schon hatte er die volle Aufmerksamkeit wieder auf seiner Seite. Generell war Billie bester Laune und sammelte unentwegt Sympathiepunkte. Zwischendurch griff der Sänger gar zu einer Mundharmonika und überraschte mit einem ungeahnten Talent. Ganze 29 Songs präsentierten uns Green Day in dieser Nacht. Fast das ganze Konzert über wurden sie dabei stimmlich von ihren Fans unterstützt. Die Zugabe „Good Riddance“ avancierte zum i-Tüpfelchen. Hier hatten manche tatsächlich einen Kloß im Hals und passender hätte der zweite Tag nicht für uns enden können, als Billie sang: “I hope you had the time of your life.”
Text: Nadine Kloppert
Photos: Michael Gamon
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