So war es bei IAMX

Hamburg, Markthalle, 10. Mai 2025
Support: Ductape

Androgyn und viszeral wischen Dunkelheit und Ekstase

Kaum eine Formation überrascht so konsequent wie IAMX – die Guerilla-Provokateure im Elektro-Underground. Dieses ständige Prickeln, dieses Knistern in der Luft, diese bittersüße Energie, die Deine Seele in Brand setzt, macht halt den Unterschied. Und genau das lässt ihre Konzerte zur Flucht in die purste Ekstase werden. Mit dem brandheißen Album „Fault Lines“ im Gepäck brachen IAMX nun zur gleichnamigen Tour quer durch Europa und Nordamerika auf – und wir waren live in der fast ausverkauften Hamburger Markthalle dabei.

Die Vorband: Ductape heizt ein

Bevor Chris Corner die Bühne stürmte, brachten Ductape den Laden auf Temperatur. Das türkische Duo sprühte nur so vor Energie: Röhrenbässe, scharfkantige Synths, dazu eine stimmgewaltige Sängerin, die uns schon nach wenigen Takten packte. Frontfrau Çağla starrte mit eiskaltem Blick ins Publikum. Ihre Stimme – eine Sirene aus finsterem Samt –, die gleichsam verletzlich und unbändig wogte. Jeder Ton ein Messerstich in die Komfortzone, jedes Wort ein Manifest der Schatten. Gitarrist Furkan presste sein Instrument förmlich aus der Dunkelheit, als wolle er die letzte Seele aus seinen Saiten quetschen – knirschend, schneidend, gnadenlos. Die visuelle Inszenierung – spärliches Licht, grell und schneidend – ließ Gesichter maskenhaft erscheinen. Schatten krochen über die Bühne, als sei sie selbst ein lebendiges Wesen, getränkt von Sehnsucht und Schmerz. Mit jedem Song rissen Ductape Risse in die Realität – und wir tauchten hinein, lebendiger denn je. Ductape bewiesen, dass sie im Kosmos der schwarzen Szene längst nicht nur ein Zufallsprodukt sind. Das war ein gefeiertes Vorspiel für IAMX.

Kunst, Sex, Wahrheit!

Plötzlich stand er da – Chris Corneraka IAMX, verhüllt mit einem bizarren Hasen-Harnisch in Kombination mit venezianischem Flair. Sein Erscheinungsbild sprengte jede Gewissheit: androgyn entlud er seine Energie direkt in unsere Herzen. Die ersten Akkorde von „The Ocean“ peitschen uns mit gewaltiger Kraft. Seine Texte sind knallhart bekenntnishaft, als würde er direkt in unsere Seelen blicken. Auf der Bühne inszeniert er sich als rebellischer Visionär: Überlebensgroß, ikonoklastisch – und trotzdem erschreckend intim. Da steht kein oberflächlicher Entertainer, sondern jemand, der jede Faser deines Körpers fühlen lässt, dass hier gerade Leben durch ihn pulsiert.

Ein Abend für die Ewigkeit

Wer an diesem Abend nicht fühlte, war fehl am Platz. Von der ersten bis zur letzten Sekunde verwandelte sich die Markthalle in einen heiligen Raum der Ektase. Die Luft knisterte, Wände aus Bass vibrierten durch unsere Knochen. Um uns herum sahen wir vertraute Gesichter alter Fans, die IAMX seit den Anfängen die Treue gehalten haben. Gemeinsam erlebten wir etwas Unbeschreibliches: Eine Mischung aus Rausch und Erlösung, aus Schmerz und Schönheit. Jeder hier wusste: Das fühlte sich an wie ein Familiengeheimnis, das nur wir teilten.

Zerreiß die Maske

IAMX zeigte, dass Maskerade mehr als Verkleidung sein kann – sie wurde zur Waffe. Corner posierte mit ausladenden Gesten, blickte uns an, ohne dass wir sein Gesicht sahen. Die Hasenmaske saß wie eine Krone aus Verheißungen. Dabei wirkte er alles andere als verletzlich: Sein Körper schlängelte sich wild, die Stimme wechselte zwischen brüllender Wut und zärtlichem Flüstern. Es war befreiend, ihm zuzusehen: Hier wurde das Ende jeder Rolle gefeiert. Das Publikum spürte das und tanzte, weil es gar nicht anders konnte. Auf diese Weise forderte er uns heraus: Spürst du, was du nie zeigen wolltest? Trau dich zu weinen, zu schreien, alles rauszulassen.

Geisterhaffe Wesen im Licht

Die Bühne um Corner herum war minimalistisch. Ein paar Synthesizer standen reglos, digitale Projektionen malten hinten skurrile Muster. Das Licht kam fast ausschließlich von hinten. Corner erschien nur als Silhouette: ein geisterhaftes Wesen im Scheinwerfernebel. So gingen seine Konturen in Rauch und Rot unter – keine Details, nur die rohe Umrissfläche. Die venezianischen Verzierungen der Hasenmaske funkelten unheimlich, die langen Ohren wirkten wie schwarze Dolche. Aus diesem Dunkel traten kurze Lichtblitze: Unsere Augen hafteten an seinen Händen, die wie ein Getriebener über den Tasten zuckten. In dieser absoluten Reduktion auf Licht, Schatten und Sound waren wir nur noch Zuhörer eines Rituals. Unsere Sinne explodierten, weil jeder Klang so roh und greifbar wirkte.

Zwischen Albtraum und Ekstase

In einem Moment zog er uns in einen düsteren Albtraum. Titel wie „Spit It Out“ oder „The X ID“ ließen die Gitarre kreischen, die Bassdrum stampfte wie ein Herz in Panik. Dein Körper zuckte, dein Verstand schrie: Du kennst diese Angst. Doch im nächsten Moment hob der Beat dich wieder empor. Die Menge sprang unisono, Corner streckte die Arme gen Himmel und schrie: „Can you hear me?“ – und wir antworteten mit tausend Kehlen. Songs wie „Neurosymphony“ bauen die Intensität unerbittlich auf: Jede Note war ein Adrenalinstoß. Dann ging er einfach ein paar Schritte an den Bühnenrand, atmete aus, sprang ins Publikum und plötzlich wurden seine Songs zu Bekenntnissen in Moll. Wenn er in „Aphrodisiac“ sanft flüsterte, fühlte sich dein Herz geerdet und frei zugleich. Du schwebtest zwischen dunklen Träumen und überschäumender Ekstase – und es hat sich noch nie so richtig angefühlt.

Achtung, Ekstase voraus

Keine Sekunde ließen IAMX die Spannung abfallen. Nach der ersten Welle kam die nächste: „Grass Before the Scythe“ peitschte mit treibenden Rhythmusfanfaren nach vorne, „Break the Chain“ riss die Kabel der Elektronik auseinander. Zwischen den Songs ging Corner auf Tuchfühlung: Er griff nach den Händen vorn, lächelte schräg ins Publikum, als würde er seine Opfer necken. Gerade als du dachtest, du würdest das nicht durchhalten, ließ er dich kurz durchatmen – dann flogen mit „No Maker Made Me“ dunkle Melodien durch den Raum. Achtung, Ekstase voraus! Zum krönenden Finale betraten IAMX mit „Bernadette“ noch einmal das Schlachtfeld der Gefühle und katapultierte uns höher.

Emotionaler  Nachhall

Als gegen Ende „Mercy“ aus den Boxen stieg, hatte niemand mehr Waffen, um sich gegen dieses Gefühl zu wehren. Chris hielt das Ende lange, ließ das Wort „Mercy“ im Raum zerlaufen. Unsere Körper waren noch erhitzt vom Tanzen, doch um uns breitete sich Stille aus – nur die spürbare Schwere dessen, was wir gemeinsam erlebt haben. Wir spürten noch seine letzten Silben auf unserer Haut, seine Augen auf uns. Langsam fuhr die Musik zurück, die Maske sank zu Boden, ein letztes Flackern der Lichter. Und wir wussten: Etwas in uns ist von jetzt an anders. Verliebt in die Dunkelheit, zerbrechlich vor Glück, hörten wir noch immer, wie unsere Herzen nach Ehrlichkeit verlangten. Dieses Finale fühlte sich an wie Heimkommen. Morgen mag die Welt normal weitergehen, aber wir kehrten mit einem neuen Herzschlag nach Hause – einem, der ein Leben lang nachklingen wird.

Text & Photos: Thomas Friedel Fuhrmann

Setlist:

„The Ocean“ • „Disciple“ • „The X ID“ • „Sailor“ • „Aphrodisiac“ • „After Every Party I Die“ • „Grass Before the Scythe“ • „Break the Chain“ • „I Come with Knives“ • „Neurosymphony“ • „Exit“ • „Spit It Out“ • „The Great Shipwreck of Life“ ••• „The Alternative“ • „No Maker Made Me“ • „Bernadette“ ••• „Mercy“

Für den Orkus1.com-Newsletter kannst Du Dich hier eintragen: